Es gibt Kinder, die mehr Nähe und Co-Regulation brauchen, und solche, die das weniger tun. Und dann gibt es noch die Kinder, die nicht nur diese Co-Regulation benötigen, sondern die gleichzeitig auch nach ganz viel Autonomie streben. Nora Imlau, Journalistin und Autorin, hat den Begriff dieser „gefühlsstarken Kinder“ hierzulande geprägt und hat Anfang Februar die Feierwerk Funkstation besucht, um ihr aktuelles Buch „Du bist anders, du bist gut“ vorzustellen.
Herzlich willkommen, Nora Imlau!
„Der Moderator ist krank, könntest Du vielleicht einspringen?“, fragt mich meine liebe Kollegin und Einrichtungsleiterin Katrin Pischetsrieder, als ich um kurz vor sechs zur Tür der Funkstation herein spaziere – zeitgleich mit Nora Imlau und ihrem Papa, der sie zu ihrer Lesung begleitet. „Meine Eltern sind heute mit nach München gekommen, meine Mama passt im Hotel auf meine Tochter auf“, erzählt Nora, „denn ich bin ja mit Baby angereist“. Das Gespräch ist sofort vertraut, was vielleicht auch daran liegt, dass ich durch unseren Podcast „dreijahrewach“, den ich gemeinsam mit Eveline von Radio Feierwerk mache, die Gelegenheit hatte, schon im Vorfeld länger mit ihr zu sprechen. So fällt es mir auch nicht schwer, kurzerhand für die Moderation einzuspringen – wobei ich mich, ehrlicherweise, schon auf einen entspannten Abend in der zweiten Reihe eingestellt hatte. Denn Nora Imlau zuzuhören ist wie Balsam für die Elternseele und tut einfach gut, wenn man sich im herausfordernden Familienalltag unsicher, überfordert, erschöpft und hilflos fühlt.
Die Stuhlreihen füllen sich allmählich, Nora smalltalked am Stehtisch. Es ist die erste Lesung in unserer Funkstation und ich muss sagen, dass eine solche Veranstaltung diesem Haus richtig gut steht. Lichterkette und Sofa empfangen die Besucher*innen – ja, es sind auch ein paar Männer dabei! – noch ein Getränk an der Bar holen und dann geht’s auch schon los. Ich begrüße die Gäste, stelle Nora Imlau kurz vor und dann fängt sie an, zu erzählen.
Gefühlsstarke Kinder kennen von ihren Emotionen nur die Extremvariante
„Wie wir sind, ist nie nur eine Frage der Erziehung, sondern wir bringen auch schon ganz viel mit“, erklärt Nora ihren Zuhörer*innen, während sie über die Bühne geht. Einen Stuhl braucht sie nicht; sie braucht Platz, um ihre Ausführungen mit Gestiken zu untermalen. Die Gäste hängen wie gebannt an ihren Lippen, viele schreiben mit. Nora Imlau ist vierfache Mutter – ihr zweites Kind ist gefühlsstark. „Dieses Kind kam auf die Welt und war auch ganz wunderbar, wir haben als Eltern nur viel weniger Komplimente bekommen als beim ersten“, berichtet Nora. Feinfühliger, wilder, energiegeladener, empfindlicher – als Nora merkt, dass ihr Kind anders ist als andere, fängt sie an, zu recherchieren. Weshalb kennt ihr Kind von jedem Gefühl nur die Extremvariante und macht sich das Leben oft selbst so schwer? Im Zuge ihrer Nachforschungen stößt Nora auf den Begriff der „Spirited Children“, den die amerikanische Autorin Mary Sheedy Kurcinka geprägt hat. Ein Licht geht auf.
„Die gefühlsstarken Kinder machen kein Drama, sondern sie erleben eins“, erzählt Nora. „Das ist in dem Moment ihre Wirklichkeit, sie können da nicht raus.“ Was wiederum aber nicht heißen soll, die Aussage ‚Mein Kind ist gefühlsstark‘ als Universalentschuldigung zu nutzen. „Ich sage: Kuckt mit viel Warmherzigkeit auf diese Kinder. Es geht nicht darum, ihnen einfach das Ruder zu überlassen, in dem Sturm der großen Gefühle, ganz im Gegenteil: sie brauchen uns Eltern sehr für die Selbstregulation“, erklärt Nora.
Du bist anders, du bist gut
‚Lesung‘ ist an diesem Abend das falsche Wort; Nora rezipiert ihr aktuelles Buch „Du bist anders, du bist gut“ in einem beeindruckenden Vortrag. Am liebsten hätte ich ein Aufnahmegerät zur Hand, um ja keine Aussage zu verpassen. Nach einer rund dreiviertel Stunde starten wir die Fragerunde, die Finger schießen nach meinem Aufruf in die Höhe. „Mein Kind hatte heute einen riesigen Wutanfall, als es nicht mehr weiter kucken durfte“, berichtet eine Mutter, „und es hat mich angespuckt“, ergänzt sie. Andere Eltern erzählen von anstrengenden Anziehsituationen am Morgen oder von Herausforderungen, die ein gefühlsstarkes Kind für das Geschwisterkind mit sich bringt. Eine Mutter vor Ort arbeitet beim Jugendamt und hat tagtäglich mit Eltern und Pädagog*innen zu tun, für denen der Begriff „gefühlsstark“ noch ein Fremdwort zu sein scheint.
„In den USA sind die gefühlsstarken Kinder schon längst kein Novum mehr, da wird auch im schulischen Kontext davon gesprochen“, erzählt Nora. „Hierzulande kommt der Begriff jetzt erst so langsam in den Köpfen an.“ Wir könnten die Fragerunde noch ewig weiterführen, das Bedürfnis nach Wissen und Unterstützung steht den Besucher*innen dieses Abends ins Gesicht geschrieben. „Sprichst Du mit Deinem Kind bzw. seinen Geschwistern darüber, dass es anders ist?“ fragt abschließend eine Frau im Publikum und trifft mir damit voll ins Herz. Genau das hätte ich Nora auch noch gerne gefragt.
Strategien und Settings by Nora Imlau
„Wichtig ist auf jeden Fall, den Kindern zu zeigen, was ihre Stärken sind. Und unsere Verschiedenheit ist ja auch eine große Stärke, denn so ergänzen wir uns“, erzählt Nora und berichtet von den Clans, in denen schon zu Urzeiten jede*r das in den Familienalltag eingebracht hat, was er am besten konnte. Für Situationen, in denen das Fass kurz vorm Überlaufen ist, empfiehlt Nora, ein Setting zu schaffen, um die Selbstregulation wieder herstellen zu können. „Ich mache dann zum Beispiel Fernsehen und Kakao“, sagt Nora. „Das würde ich natürlich nicht immer machen, aber es ist eine Strategie, um mich und die Kinder erstmal zu beruhigen und dann weiter zu schauen“.
Als ich Nora Imlau von der Bühne verabschiedet habe, verfallen die Zuhörer*innen untereinander ins Gespräch, man tauscht sich aus. Nora signiert Bücher am Bücherstand und beantwortet noch letzte Fragen, die ihren Fans auf dem Herzen liegen. Eine Frau hat ihr Ticket im Rahmen unseres Adventskalenders auf Instagram gewonnen und ist extra aus Salzburg angereist. Sie nimmt ein Buch mit nach Hause , und ich nehme mit: es geht ums gesehen werden bei den gefühlsstarken Kindern (und nicht nur bei denen). Es geht darum, ehrlich mit ihnen zu sein und ihnen nicht das Gefühl zu geben, nicht zu passen. Strategien zu entwickeln und Wut umlenken können. Und sich von der Erziehung zu verabschieden, die uns Eltern vor die Aufgabe stellt, aus unseren Kindern gute Menschen machen zu müssen. Die Kleinen haben schon jede Menge an Bord, wenn sie ihre Reise auf der Welt antreten; und dann liegt es an uns, sie liebevoll und mit viel Verständnis zu begleiten.